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Neuigkeiten aus dem Apfelweinkeller

Allgemein  /  20.11.2024

Anno 1965

by Thilo
Anno 1965

Nachbar Rainer hat uns einen Zeitungsartikel aus der FAZ (Hinweis: Bezahlschranke) weitergeleitet, den ich hier gerne in Auszügen teilen und kommentieren möchte (Achtung: der Blog-Beitrag heute ist sehr textlastig). Der Artikel von Heinrich Heym erschien am 19.11.2024 in der Rubrik „75 Jahre Frankfurter Allgemeine“, ist im Original aber vom 3.8.1965.

FAZ, 19.11.2024: „Apfelweinlokal 1966“, Foto: Lutz Kleinhans

Das Bild zeigt eine typische Szene aus einem beliebigen Apfelweinlokal von 1966 (kann also nicht Teil des Originalartikels gewesen sein) – es könnte aber auch gerade vom diesjährigem Sommer sein. Gut, an den Klamotten sieht man, dass das Bild einen Tic älter ist – aber sonst alles wie immer: man schaut „hessisch freundlich“ in der Gegend rum, schwätzt, genießt den Tag, trinkt Schoppe. Besonders cool finde ich den Kellner im weißen Kittel – sowas habe ich zuletzt in den 90ern in Prag im Restaurant gesehen 😃.

Inhaltlich geht der Artikel zunächst auf die Geschichte des Apfelweins ein – beginnend bei Karl dem Großen – jawohl! Der gute Mann erließ eine Anweisung für die Verwaltung („Capitulare de villis“) in der es hieß: „Wir ordnen an, daß jeder Richter unter seinem diensttuenden Personal tüchtige Meister habe, also Eisenschmiede, Silber- und Goldschmiede . . . und solche Leute, die berauschende Getränke, sei es Bier, Birnenwein, Äpfelwein und sonst eine zum Trinken geeignete Flüssigkeit bereiten können . . .“. Also eine kaiserliche Anordnung zur Bereitstellung von Apfelwein – was soll man da machen 😉. Ein ganz anderer Autor, Adolf Stoltze, Sohn des Friedrich, hat dem Kaiser Karl dagegen unterstellt, den Apfelwein sogar erfunden zu haben, wenn auch aus Versehen auf der Flucht vor den Sachsen:

Den Reichsappel in der Hand
Floh Kaiser Karl zum Mainesstrand.
Un hat, da er sehr abgehetzt,
sich uff den Appel da gesetzt.
Nadierlich aanzig aus Verseh,
denn so e Sitz is grad net schee.
Uff aamal awwer spiert er was
Un greift danach un is ganz nass
Un luscht dann draa: Uij! Schmeckt des fei
Un kreischt dann: „ Des is Äppelwei!
Gottlob, jetzt hat der Dorscht e End,
gleich morje nemm ich e Padent!

Zurück zum Artikel: Bis etwa zum Jahre 1500 dominierte auch in Frankfurt der Traubenwein, doch aus Platzmangel (die Stadt wuchs) verbot man das Anlegen neuer Weinberge, woraufhin man sich auf den Apfel besann – zumindest für den Eigenbedarf. Die findigen Schankwirte haben dann allerdings fleißig Traubenwein und Apfelwein gemischt (und natürlich als teuren Traubenwein verkauft), was 1560 eine Ratsverordnung verhindern sollte. Da es 1638 nochmal die gleiche Anordnung gab, war man damit wohl nicht sehr erfolgreich.

Seit 1641 ist es üblich einen Kranz rauszuhängen, wenn man Apfelwein ausschenkt. Ein altes Mundartgedicht beschreibt die Situation:

Dann oft aus jedem dritten Haus
streckt unser Herrgott den Arm (das Kränzchen) eraus
un lädt die dorschdig Menschheit ein
Zu e paar Schoppe Äppelwei.

Das Angebot muss fleißig genutzt worden sein. In dem Artikel heißt es „Sie haben in einem Jahr einmal nur in Sachsenhausen über 10 000 Hektoliter ausgeschenkt.“ Es klingt als referenziere der Autor circa das Jahr 1750 … lass mal rechnen: 10.000 Hektoliter = 1.000.000 Liter. Im Jahre 1750 hatte ganz Frankfurt laut Wikipedia 32.000 Einwohner (groß/klein/jung/alt). Sind wir großzügig: es waren nur 75% = 24.000 im Apfelwein-trinkfähigen Alter. Aber wir reden eigentlich nur von Sachsenhausen! Auch hier großzügig gerechnet: Etwas weniger als die Hälfte seien Sachsenhäuser gewesen – bleiben 10.000 Einwohner für 1.000.000 Liter Apfelwein. Das macht 100L pro Nase/ Jahr, bzw. etwas mehr als 8L pro Monat, also ungefähr (Daumenpeilung!) 1 Schoppen pro Tag. Jeden Tag!
Puh, jetzt wollte ich gerade schreiben, dass das doch ganz schön viel sei, da fällt mir das ältere Eschborner Ehepaar ein, das mir einmal erzählte, dass sie jeden Tag um 18:00 Uhr jeder je 1 Schoppen trinken. Seit vielen Jahren. Beide sind mittlerweile über 80 – an der gesundheitsfördernden Wirkung des Schoppens muss was dran sein 😉 – was auch die in dem Artikel zitierte Weise von Emmerich Reck nahelegt:

Es Stöffche ist for alle gut
es fegt de Maage, labt die Schnud
hilft gegen Rheuma, Podraga
Heufieber, Gicht und Cholera.
Frühmorgens, mittags, abends emal
bringt flotten Gang er ohne Qual

Der Apfelwein gewann derart an Bedeutung, dass man 1928 folgende Doktorarbeit zuließ: „Der Äpfelwein, sein Werden und seine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung des Frankfurter Äpfelweines“. Interessant die daraus im Artikel erwähnten Aspekte zur Apfelweinherstellung:

  • „die Hauptmerkmale eines ausgezeichneten Kelterapfels eine gute Mischung von Zucker und Säure bei festem Apfelfleisch“ – ja, stimmt.
  • es brauche „eine ausgewogene Mischung von verschiedenen Apfelsorten“ – ja, stimmt auch.
  • „Besonders gute Anbaugebiete für den typischen Frankfurter Apfelwein sind die Mosel, die Wetterau und das Maintal.“ – olala – die Mosel?! Das dürfte man heute nur noch hinter vorgehaltener Hand sagen …
  • „Unter Umständen werden Äpfel aus dem Ausland eingeführt, um eine gute Mischung zu bekommen oder um ein mangelndes Inlandsangebot auszugleichen.“ – Sakrileg! 😱
  • Ende des 18. Jh. hat man aus 100 kg Äpfeln ca. 40L Saft bekommen, 1965 rechnete man schon mit 60L .. heute ist es noch ein bisschen mehr – moderne Mühlen und Pressen vorausgesetzt. Wir (Krönchen) rechnen immer mit einer Quote von 50%.
  • „die Maische […] nicht sofort zu pressen, sondern andunkeln zu lassen. Dadurch entsteht der vollfarbige Frankfurter Äpfelwein“ – haben wir so in Frankreich und England gesehen 🤔. Bei uns passiert es eher „aus Versehen“, da wir mit dem Pressen nicht nachkommen 😉.

In dem Artikel wird auch auf den geselligen Aspekt des Apfelweins eingegangen: „[Der Apfelwein] macht gemütlich, und das durch die Tradition bedingte Zusammenhocken an langen Tischen, auf langen Bänken, schafft eine besondere Art von Geselligkeit, die einfache Menschen wie gebildete gleichermaßen ergreift.“ – dem ist wenig hinzufügen. Meine kleine Lebensweisheit „Wer Apfelwein alleine trinkt, ist selber schuld“ hat man auch schon 1965 gekannt: „Wer einsam ist, das haben schon viele Ausländer oder Zugereiste erfahren, braucht nur dahin zu gehen, wo der Bembel auf dem Schanktisch steht.“ – so isses auch heute noch … zumindest in den urigen Traditionsgaststätten.

Dort findet sich auch das, was der Autor des Artikels von 1965 schon nicht vollständig klären konnte – und damit möchte ich diesen Beitrag auch beschließen. Wenig Bilder diesmal – ich hoffe es hat trotzdem gefallen 😇:

„Nie ganz erklären jedoch kann man dem Fremden die Atmosphäre in Frankfurter Apfelweinlokalen. Man
kann Argumente anführen, wie es bereits hier geschehen. Man kann durch Milieuschilderung versuchen, der Stimmung auf die Spur zu kommen. Aber man kann sie am Ende nie ganz beschreiben. Es bleibt ein Rest, der nie erklärbar ist. Es ist vielleicht ein Rest vom alten Frankfurt, das zäher scheint, als mancher wahr haben will.“

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2 comments

  • Achim
    27.11.2024

    Hallo Thilo,
    Danke für diesen Beitrag. Was mich sehr verwundert hat, ist jedoch Dein Erstaunen über den Apfelweinkonsum pro Tag und Einwohner? Wie Du weist hatten wir Most im Keller. Ungefähr in der Zeit, die Du hier vorgestellt hast – so um 1965. Zwei Fässer, eines circa 700 L, das ältere und das größere um die 1000 L. In beide Fässer bin ich als Kind rein geklettert – unter Aufsicht und ganz bewußt, um die Fässer von innen zu schrubben. Das kleinere war etwas zuwenig für ein Jahr, das andere war manchmal etwas zuviel, ich schätze mal das wir so zwischen 800 bis 900 L im Jahr getrunken hatten. Wer war wir – nun die Bewohner des Hauses. Das waren meine Eltern und meine Großmutter. Wobei meine Mutter keinen Most mochte. Zur Ehrenrettung muss man allerdings sagen, der Most wurde noch beim Einfüllen 1:1 mit Wasser verdünnt, also eher Mostschorle mit Kohlensäure, verglichen mit einem echter Apfelmost heute. Und meine Großmutter hat den dann in eine Flasche aus dem Faß abgefüllt mit aufs Feld genommen. Sprudel gab es selten, weil der musste ais Göppingen von der Mineralquelle, zB per Auto (hatten wir sei 1963 – VW Käfer) von Hand „kostenlos“ an der Quelle gezapft und ins Haus transportiert werden. Später gabs dann auch viel Apfel- und ich liebte es – Quittensaft. Ende der 60er kam dann auch mehr abgefüllter Sprudel ins Haus und man hat den Saft nicht mehr unverdünnt getrunken, dafür wurde der Most „stärker“. Aber zwei Personen im Haushalt hatten locker 800 – 900 L Most pro Jahr gerunken. Kein Problem. Das Krüglein bei uns und miener Oma fasste zwar nur ca 0,7L. Aber wenns leer war, ging man eben in den Keller. Und wann ich angefangen hatte daran zu probieren weis ich nicht mehr. Es dürfte schon sehr früh gewesen sein – damals vielleicht mit Oma auf dem Acker oder beim Heu machen. Da war es heiß und trocken – und staubig. Mit drei Jahren jedenfalls kannte ich alle unsere Äcker und Grundstücke auf der gesamten Gemeindegemarkung und konnte und durfte damals auch allein nach Hause und wieder aufs Feld laufen (wenn etwas gefehlt hat, zB der Wetzstein fürs Sensenschärfen oder sowas). Und bei den Bauern rund um uns herum gab es zwar für Kinder keinen Most, wenn man aber das trotzdem mal ein paar Schluck getrunken hat, wars auch nicht schlimm. Frischer Apfelsaft schmeckte mir damals aber besser als Most.

    Reply
    • Thilo
      28.11.2024

      Moin Achim,
      das ist in der Tat spannend.
      >>>>
      zwei Personen im Haushalt hatten locker 800 – 900 L Most pro Jahr gerunken. Kein Problem.
      <<<< Das sind (min.) 400L pro Person pro Jahr, also (min.) 1L Most jeden Tag. Das klingt für meine Ohren immer noch viel. Zum Vergleich: In unserem Keller lagern (zu Beginn) immer so ca. 400L Apfelwein. Wenn "Family & Friends" nicht mittrinken würden, wäre das mengentechnisch "untrinkbar" 🤪. Naja, andere Zeiten ... Ich freue mich jedenfalls sehr über deinen Bericht "aus dem Süden" - vielen Dank dafür!😃

      Reply

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